Sehr geehrte Stadträtin, sehr geehrter Stadtrat,
wie Sie vielleicht vernommen haben, ist der Initiativkreis: Menschen.Würdig mit der derzeitigen städtischen Bauvorlage zum Ausbau der Asylunterkunft in der Torgauer Str. 290, die am 25.02.15 verabschiedet werden soll, nicht einverstanden.
Die Asylunterkunft in der Torgauer Straße 290 ist in Größe, baulichem Zustand und vor allem aufgrund der isolierten Lage nicht geeignet, um Menschen, die vor Kriegen, Verfolgung und Diskriminierung fliehen, ein Ankommen in Leipzig zu ermöglichen. Wir verweisen in diesem Zusammenhang auch auf den offenen Brief von vier Bewoh-nern der Unterkunft, den wir Ihnen angehängt haben.
Wir sind uns bewusst, dass die Mehrheit der Stadträt_innen dazu tendiert, für den Ausbau der Torgauer zu stimmen. Dennoch möchten wir Sie hiermit bitten, sich unse-re Argumente durchzulesen, sich zu informieren und die Sachlage nochmal zu disku-tieren, bevor Sie am 25. Februar eine Entscheidung fällen und so über den Einsatz von 6 Millionen Euro abstimmen.
Im Folgenden eine Auflistung unserer Argumente gegen den Ausbau der Torgauer Straße und damit:
– für ein menschenwürdiges Wohnen für alle Menschen, die in dieser Stadt leben!
– für ein ehrliches, dezentrales Unterbringungskonzept für Asylsuchende in Wohnun-gen!
– für eine ehrlich gemeinte Willkommenskultur und ein weltoffenes Leipzig!
– für eine gelebte, partizipative Diskussions- und Entscheidungskultur in der Leipziger Stadtpolitik!
Mit großem Dank für Ihre Aufmerksamkeit,
Ihr Initiativkreis: Menschen.Würdig.
i.A. Kim Schönberg
Unsere Argumente
1. Bislang sind nicht alle Objekte abschließend geprüft worden, die für die Unterbrin-gung von Asylsuchenden in kleineren Gemeinschaftsunterkünften vorgeschlagen wurden bzw. zur Disposition standen. Laut städtischer Liste sind 10 Objekte in der Kategorie „laufen-de Prüfung“, acht Objekte in der Kategorie „nicht abschließend bewertet“ und vier sind mit „vielleicht“ gekennzeichnet. Es kann also nicht abschließend gesagt werden, die Torgauer Straße sei “alternativlos”!
>> Teilweise werden Objekte, wie bspw. das in der Bornaischen Straße wurde so lange “geprüft”, bis die Sanierungskosten untragbar sind – eine schnelle Arbeitsweise hätte das verhindern können. Leider hat sich die städtische Verwaltung immer dagegen gewehrt, am Prozess der Erschließung neuer Heime Akteure der Zivilgesellschaft aktiv partizipieren zu lassen. Dies hätte dem Prozess die Möglichkeit eines offeneren, kreativeren Suchens gestattet – und kann das immer noch tun!
2. Die Wohnungsgenossenschaften und die Wohlfahrtsverbände wurden nicht aktiv in den Prozess der Suche nach Unterkünften einbezogen. Eine engere Zusammenarbeit mit den Genossenschaften, die einen großen Leerstand haben, hätte die Erschließung hunderter Wohnungen ermöglicht. Zusammen mit den Wohlfahrtsverbände hätten neue, auch unge-wöhnliche Ideen für die Suche erarbeitet werden können.
Bislang gab es kein Treffen von Bürgermeister, städtischer Verwaltung, Genossenschaften und Wohlfahrtsverbände an einen Tisch, um über Rahmenbedingungen zu sprechen, die eine dezentrale Aufnahme von Flüchtlingen selbst in Zeiten steigender Zahlen möglich machen. Auch die Frage nach dezentraler, sozialer Betreuung könnte in solch einem Gespräch abge-stimmt werden. Vor der endgültigen Entscheidung sollten diese Möglichkeiten ausgeschöpft werden.
>> Kurz nach der Wende wurden etwa 600 jüdische Kontingentflüchtlinge in genossen-schaftlichen Wohnungen untergebracht. Damals war eine unkomplizierte, schnelle und somit dem spontanen Notstand an Unterkunftsmöglichkeiten angemessene Zusammenarbeit mög-lich. Warum sollte das jetzt, wo Flüchtlingsströme und Zuweisungszahlen nach Leipzig an-steigen, nicht wieder möglich werden?
>> Der Sozialbürgermeister Thomas Fabian behauptete in einer Stadtratssitzung 2014, dass eine Unterbringung von Asylsuchenden bei Wohnungsgenossenschaften nicht möglich sei, da Mitgliedschaften zu begründen sind. Die Genossenschaften betonten uns gegenüber, dass es durchaus möglich ist Asylsuchende in Genossenschaftswohnungen unterzubringen und sie dazu bereit sind! Wir haben Ihnen dazu exemplarisch das Antwortschreiben der Platt-form Leipziger Wohnungsgenossenschaften wohnen bei uns angehängt.
3. Die Bauvorlage enthält keine Ansätze zur Lösung der vielen sozialen Probleme in der Torgauer Straße. Die Anonymität und Isolation wird trotz Renovierung bleiben. Der Ausbau bedeutet deshalb eine unverantwortliche Potenzierung aller existenten gravierenden sozialen Probleme – auch der vorhandenen Suchtproblematiken – und eine massive Behinderung der Integration, da diese wesentlich an einem zügigen Spracherwerb hängen. Eine Vorlage, die die dauerhafte Fortführung der Massenunterkunft beschließt, müsste zumindest einen Plan dafür enthalten, wie damit umgegangen werden soll.
>> Das Heim ist als eine schnelle Übergangslösung konzipiert, tatsächlich gibt es aber viele Personen, die dort schon jahrelang aufgrund von Kettenduldungen o.ä. leben. Die kata-strophalen Lebensbedingungen vor Ort führten zu Depressionen und psychischen Erkran-kungen, sodass diese Geflüchteten spätestens jetzt besondere Hilfestellungen brauchen, um wieder ein selbständiges Leben führen zu können. Was sieht die Verwaltung für diese Men-schen vor? Wann wird endlich darüber gesprochen? Was soll gegen die Anonymität gesche-hen? Wie soll verhindert werden, dass noch einmal fast 2 Monate eine Leiche in der Unter-kunft verwest, ohne das es jemand mitbekommt? Vor einer Entscheidung muss darüber doch zumindest diskutiert werden!
4. Der Ausbau der Torgauer Straße bedeutet eine Reduktion der Aufnahmemöglichkei-ten während der Bauphase. Eine schnelle Kapazitätserweiterung für die Unterbringung Asylsuchender und damit die Gewährleistung der akuten Aufnahmebereitschaft Leipzigs sind die Gründe des Ausbaus- tatsächlich bedeutet diese Grundsanierung natürlich eine notwen-dige Reduktion der Aufnahmemöglichkeiten während der Bauphase. Deshalb ist die Investiti-on als eine sozialpolitische Grundsatzentscheidung zu interpretieren, die sich über Jahrzehnte rechnen muss. Dafür sehen wir keinen nachvollziehbaren Fahrplan. Mittel- und langfristig kann niemand die Entwicklung der Flüchtlingszahlen absehen. Spekulationen über eine mög-liche spätere Nutzung als Studierendenwohnheim oder Mietshaus erscheinen uns angesichts der isolierten Lage im Gewerbegebiet und des gegenwärtigen Wohnungsleerstandes in Leip-zig abwegig.
>> Zudem würde die Kapazitätserweiterung nur 200 neue Plätze schaffen. 200 Plätze sind aber auch mit weniger als 6 Millionen Euro durch kleinere Gemeinschaftsunterkünfte mit besseren Rahmenbedingungen, durch dezentrale Unterbringung in Genossenschaftswoh-nungen bzw. auf dem freien Wohnmarkt zu ermöglichen.
5. Das sozialpolitisch überkommene Modell „Ankommen und Orientieren“, das Ge-meinschaftsunterbringung bevorzugt, stammt aus der Wohnungslosenhilfe und gilt dort schon lange als überholt. In den USA und auf EU-Ebene wird das Modell „housing first“ favorisiert, das besonders bei schwerstbelasteten Wohnungslosen erstaunliche Erfolge durch Empowerment erzielt und dazu weit kostengünstiger ist. Ein Modell, das in vielen ana-logen sozialen Bereichen erfolgreich umgesetzt wird. Warum für Flüchtlinge das ausrangierte Modell integrationspolitisch wirksamer sein sollte, leuchtete auf Anfrage dem Bremer Sozial-wissenschaftler Dr. Volker Busch-Geertsema nicht ein. Er ist ein europaweit führender Sozial-forscher zum Thema soziale Inklusion von Randgruppen durch Unterbringung nach dem „housing first“-Modell.
>> Kommunale Erfahrungen aus zahlreichen Bundesländern bestätigen die Wirksamkeit des „housing first“-Modells: In Rheinland-Pfalz, Schleswig-Holstein und Bremen sind bis zu 90% der Asylsuchenden dezentral in Wohnungen untergebracht. Das Leverkusener Modell, dem auch die Stadt Köln gefolgt ist, sieht eine möglichst rasche Unterbringung aller Flücht-linge in eigenen Wohnungen vor, was günstiger ist und die Integration deutlich verbessert. Leipzig war zwar sächsischer Vorreiter in der Umsetzung des dezentralen Konzepts, liegt aber faktisch heute mit knapp über 50% nur geringfügig über dem sächsischen Landesdurch-schnitt. Sogar im CDU regierten Dresden leben laut statistischen Angaben des Sächsischen Innenministeriums 69% der Asylsuchenden in Wohnungen. Sachsen hat dabei im Bundesver-gleich mit Brandenburg und Baden-Württemberg die niedrigste Wohnungsquote.
>> Diese Woche hat sich die Initiative Willkommen im Kiez der Öffentlichkeit vorgestellt. Das Netzwerk aus Vereinen, Kultureinrichtungen, Wohnprojekten und Anwohnern aus dem Leipziger Westen wünscht sich ausdrücklich ein gemeinsames Leben mit Flüchtlingen. Sie fordern die Stadt auf, so viele Plätze zur dezentralen Unterbringung wie möglich in Lindenau und Plagwitz zu realisieren. Die Initiative geht davon aus, dass sofort 200 bis 300 Asylsu-chende allein in diesen Vierteln untergebracht werden könnten. Bisher sperrt sich die Stadt jedoch gegen kreative Lösungen, wie das Wohnen in bestehenden Wohngemeinschaften und lässt damit das gewaltige zivilgesellschaftliche Unterstützungspotential ungenutzt.
>> Vor diesem Hintergrund fordern wir, dass sich vor der endgültigen Ent-scheidung zum Ausbau und Fortbestand der Asylunterkunft in der Torgauer Straße 290 alle Akteure an einen Runden Tisch setzen und die “Alternativlosig-keit” der Torgauer Straße diskutieren. In jedem Fall muss ausführlich darüber gesprochen werden, wie die derzeitigen Probleme dort gelöst werden sollen.
>> Ein Konzept, das seit 1995, also seit 20 Jahren, nicht funktioniert, wird auch mit 6 Millionen Euro nicht zu retten sein!